In diesem Buch geht es um gesellschaftliche Narrative. Amanda Leduc erzählt ihre persönliche Geschichte und gleichzeitig die vieler anderer Menschen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Schicksale sprechen durch ihre Zeilen zu den Leser*innen, wie Stimmen, aus einem niemals endenden Chor. Diese haben eine deutliche Botschaft: der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung muss anders werden.
„Wir müssen andere Geschichten erzählen“, fordert Amanda Leduc und sie fordert es zu Recht.
Sie wurde mit einer Zerebalparese, einer cerebralen Bewegungsstörung geboren. Mit beeindruckender Offenheit erzählt sie von ihrer Kindheit, der sehr frühen und wiederholten Erfahrung von Ableismus im Alltag. Dabei funktionieren gesellschaftliche Narrative, in Form von Märchen und Heldengeschichten, wie ein Spiegel dieser Alltagserfahrungen. Amanda Leduch gelingt es zudem, ihre Leser*innen auch über die Autor*innen und sozialen Kontext dieser Narrative aufzuklären. Da ist vor allem die kleine Meerjungfrau und ihr Autor, Hans Christian Andersen, selbst jemand, der um gesellschaftliche Anerkennung ringen musste. Die kleine Meerjungfrau wurde von Disney zu einer Prinzessin mit Happy End umgeschrieben und somit ein unerreichbares Ideal für alle jungen Frauen, deren Körper nicht dem gesellschaftlichen Ideal entsprechen. Mit großer Sorgfalt entwickelt Amanda Leduc die historischen und kulturellen Hintergründe von Märchen und Heldengeschichten. Der Leser erfährt beispielsweise die Bedeutung von Wechselbälgern, Kinder von Feen, die mit gesunden Kindern vertauscht wurden.
„Im sozialen Modell (…) um die Forderung, dass behinderte Menschen bei allen Entscheidungen, die ihre Teilhabe an der Gesellschaft betreffen, ein Mitspracherecht haben – und dass die Gesellschaft für all ihre Mitglieder verantwortlich ist, wozu auch gehört, den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Körper entgegenzukommen.“ Wir müssen neue soziale Narrative erfinden, so das Anliegen von Amanda Leduc, die nicht das behinderte Leben abschaffen oder wegzaubern, sondern eine Welt erzählen, in der das Leben, egal in welchem Körper ein Mensch lebt, nicht behindert wird. Amanda Leduc zu lesen ist ein großer Gewinn, eine tiefgründige Reflektion, nicht nur über die Welt, in der wir leben, sondern über die, die wir mit unseren eigenen Narrativen entwerfen.
Amanda Leduc: Entstellt. Über Märchen Behinderung und Teilhabe,Nautilus Flugschrift, 2020.
Dieses Buch eröffnet einen Horizont mit ungewöhnlichen Standpunkten und inspirierendem Blick. In Lob des Risikos lässt die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle ihre Gedanken über Gesellschaft sowie über ihre Patienten und ihre Lektüre rund um den Begriff „Risiko“ schweifen. Das Ergebnis ist eine Reihe von kurzen Texten, die Kommentare, Lesenotizen, Zitate und Gesellschaftskritik vereinen und die unser Selbstverständnis in vielerlei Hinsicht in Frage stellen. Erwarten sollte man von Lob des Risikos weder Antworten noch Empfehlungen; das Buch stellt eher Werkzeuge vor, mit denen existenziellen Themen begegnet werden kann, um somit womöglich auch sich selbst näherzukommen. Wenn Dufourmantelle über das Risiko schreibt, denkt die in 2017 in Südfrankreich verstorbene Autorin nicht an heldenhafte Taten - obwohl sie selbst ihr Leben riskierte und dabei verlor, als sie die Kinder einer Freundin vor dem Ertrinken retten wollte- sondern wertet viele Verhaltensweisen auf, die in unserer überperformativen und normierten Gesellschaft als verpönt gelten. Die Autorin versucht sogar deren positiven Bedeutung zu entziffern. Da wäre zum Beispiel das Thema Abhängigkeit: In einer Zeit, in der Beziehungen in der Regel unter dem alleinigen Merkmal der Gleichberechtigung beurteilt werden, schreibt sie: „Die Liebe ist eine Kunst der Abhängigkeit (…) Sie setzt voraus, dass man seine Niederlage, das unsinnige Warten, seine Verzweiflung angesichts der abrupten Ablehnung des anderen eingesteht, dass man sich von einem scheinbar nicht enden wollenden Schmerz zerrütten lässt.“ Oder wenn sie den Zustand der Schwebe lobt: „Was riskieren wir, wenn wir eine Entscheidung aussetzen? (…) Der Zweifel ist der Gehilfe der Schwebe, ihr Totengräber und ihr Bote.“ Oder auch, wenn sie unsere Tendenz, alles zu speichern kritisiert: „Das Vergessen macht uns offen für Neues, für etwas, das noch nicht gespeichert worden ist, uns aber dennoch überbracht werden wird.“ Anne Dufourmantelle zu lesen ist wie ein Spaziergang am frühen Morgen auf dem Land. Danach ist der Körper warm und der Kopf hell, man schäumt vor Ideen.
C.C
Anne Dufourmantelle, Lob des Risikos, Aufbau Verlag, 2018.
Eine Nervenheilanstalt auf einer abgelegenen finnischen Insel. Früher wurden die Aussätzigen nach Själö geschickt, inzwischen werden ausschliesslich Frauen dort eingeliefert. Darunter befindet sich Kristina, die ihre beiden Kinder in einer Oktobernacht ertränkte. Die Geschichte beginnt 1891 und erstreckt sich über ein Jahrhundert durch die Perspektive von drei Frauenfiguren: Kristina, die nach dem Tod ihrer beiden Kinder als „unheilbar geisteskrank“ diagnostiziert wird, die 17-jährige Elli, die von zu Hause weggelaufen ist und aufgrund ihres wilden Lebensstils 1934 auf die Insel geschickt wird sowie die Krankenschwester Sigrid, die mehrere Jahrzehnte in Själö arbeitet. Die Geschichte der ersten Protagonistin spiegelt das ganze Leid und die Doppelmoral wider, denen Frauen in traditionellen ländlichen Gesellschaften ausgeliefert wurden: Kristina muss sich für ihre Vergewaltigung schämen, wird verstoßen, dann von ihrem Mann verlassen bis sie die Einsamkeit mit ihren beiden Kindern nicht mehr aushält und sie in den Fluss wirft. Die finnische Autorin Johanna Holmström zeichnet eine Welt, in der die Frauen lernen müssen, still zu bleiben. „Fügsamkeit ist eine Notwendigkeit“, denkt sich die Krankenschwester Sigrid, während sie die regungslose Elli badet. Die kühle Autorität des Arztes, der die Patientinnen wie exotische Tiere untersucht, fast seziert, auf der Suche nach Zusammenhängen zwischen körperlichen Symptomen und geistigen Verirrungen, lässt einen erzittern. Mit ihrer einfühlsamen und zugleich bildreichen Sprache, die die idyllischen Wasserlandschaften des Nordens malt, gelingt es der Autorin, uns in die Gedankenwelt ihrer Figuren zu transportieren und all diese vergessenen Stimmen, die auf dem Altar der Psychiatrie geopfert wurden, wieder an die Oberfläche zu holen. Man kann den Schmerz, die Angst und die eigene Entfremdung von Kristina und Elli wie bei einem Wachtraum genau spüren. Durch diese Frauenschicksale zeigt sie, wie Verrücktsein und Verrücktwerden je nach Kultur und Epoche unterschiedlich gelesen werden und wie oft sie soziale Missstände kaschieren. In ihrer Widmung schreibt die Schriftstellerin: „Für dich, die du dich auch schon mal gefragt hast, ob du verrückt bist oder es gerade wirst. Wahrscheinlich mit Recht.“ Auch die Rückkehr der Schuld und wie man daran zerbrechen kann sowie die Brutalität von Müttern gegenüber ihren Töchtern stellen zentrale Themen dieser Erzählung dar. Manche Stellen erinnern an den starken Roman „Beloved“ der US-Autorin Toni Morrison, etwa wenn Kristina vom Gespenst ihrer ermordeten Tochter heimgesucht wird. Ein starker Roman, der die LeserInnen bis zum Ende fesselt.
C.C
Johanna Holmström, Die Frauen von SJÄLÖ, Ullstein, 2019.