Über Prostitution sprechen oder wie man über das Unsagbare diskutiert

©Urban Isthmus by Flickr
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Dieses Thema treibt mich schon lange um. Wie ein Gespenst begleitet es mich seit Beginn meiner journalistischen Karriere. In den ersten Monaten meiner freien Mitarbeit bei der Pariser Tageszeitung Le Figaro im Jahr 2002 recherchierte ich sowohl über einen Skandal mit Prostitutionsvorwürfen bei einer bekannten Modelagentur als auch über Zwangsprostitution mit osteuropäischen Frauen. Mithilfe dieser beiden Fälle entdeckte ich auf einmal zwei Facetten der Prostitution, die ich bisher nur aus dem Fernsehen, Filmen und Zeitungsartikeln kannte: die Welt des Escorts und des Straßenstrichs. Ich war selber kaum älter als die betroffenen Frauen, gerade 24 Jahre alt, und erlebte diese Recherche als eine elementare Erfahrung in meinem Leben. Vielleicht spürte ich, dass ich auch eine dieser Frau hätte sein können, wäre ich etwa in einem anderen Land oder in eine andere Familie hineingeboren worden. Ohne es wirklich zu begreifen, ahnte ich bereits damals, dass diese Geschichten rund um Macht, Sex und Geld sehr viel über die Stellung und Abhängigkeit von Frauen in unserer Gesellschaft aussagten.

Zu der Zeit arbeitete ich in einer Redaktion, in der ein älterer Kollege – der in den folgenden Jahren eine steile Karriere hinlegte – wohl aus Langeweile regelmäßig mit fröhlicher Stimme einen blöden Spruch machte, der mir in Erinnerung geblieben ist: „Ich gehe heute zu den Huren!“ Eine Äußerung, die früher auf einen Bordellbesuch hinwies, die aber heute bedeutet – Bordelle sind in Frankreich seit 1946 verboten –, dass man zu einer Prostituierten geht. Ich versuchte mitzulachen, fasste aber für mich einen Entschluss: Prostitution muss streng verboten werden. Naiv dachte ich, dass ich dann solche Sprüche nicht mehr hören würde und dass solche Recherchen sind erübrigen würden. Von dieser Überzeugung predigte ich in den folgenden Jahren meiner Familie und vielen Freunden. Mit mäßigem Erfolg. Oft schauten Freunde etwas verlegen, erinnerten mich an den banalen Spruch, dass Prostitution nun einmal „das älteste Gewerbe der Welt“ sei, oder provozierten mich mit Fragen danach, ob ich tatsächlich alles machen würde, was mein Freund sich im Bett von mir wünschen würde.

Damals zeigte sich auch die französische Gesetzgebung noch relativ liberal gegenüber diesem Gewerbe. Seit 2016 folgt Frankreich jedoch dem schwedischen Modell und verbietet es Freiern, sexuelle Dienstleistungen in Kauf zu nehmen. 

 

Artemis

 

Obwohl ich mich danach viele Jahre mit ganz anderen Themen beschäftigte, wie mit der deutschen Politik, Europapolitik oder den deutsch-französischen Beziehungen, blieb ich stets interessiert an diesem Thema. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Zeitpunkt, als das Großbordell Artemis 2006 seine Türen in Berlin eröffnete. Alle Auslandskorrespondenten wurden eingeladen, die Räumlichkeiten in einem kanariengelben Bademantel zu besichtigen, und freuten sich sichtlich darüber, bei abendlichen Treffen davon zu erzählen. Mein damaliger Kollege bei Le Monde nahm an einer dieser etwas bizarren Führungen teil und schrieb darüber eine Reportage. Ich empfand dem Ganzen gegenüber Ekel. Ekel davor, dass Journalisten die Kommunikationsabteilung von Artemis mit Artikeln unterstützen. Ekel davor, dass die männlichen Kollegen es offenbar richtig amüsant fanden, eine Runde in diesem Vergnügungsstempel machen zu dürfen. Ich hatte Lust, ein Pamphlet dagegen zu schreiben.

Nur je mehr ich über Prostitution las und mich informierte, desto mehr begriff ich, dass die Materie nicht ganz so einfach zu fassen ist. Es war, als ob ich in einem Labyrinth verloren gegangen wäre und keinen Ausgang finden würde. Mir erschien es, als würde man in dieser Frage nie eine befriedigende Position beziehen können. Ob man für ein Verbot oder dagegen ist – man wird sich wohl immer ein bisschen feige fühlen.

 

Hetäre

 

Letzten August wurde ich auf die neue Kolumnistin der Tageszeitung Die Welt aufmerksam gemacht: Hanna Lakomy alias Salomé Balthus verfasst dort regelmäßig Texte aus ihrem Alltag als sogenannte Hetäre, sprich Luxuskurtisane, ein zwar im Französischen nicht unbekannter Begriff, der im bildungsbürgerlichen Milieu verankert ist; so schrieb Simone de Beauvoir einst in Das andere Geschlecht ein Kapitel über die Hetären. Im Deutschen ist dieser Ausdruck allerdings sehr selten. Es sind zwar interessante Einblicke einer selbstbewussten und scharfsinnigen Frau über ihre erotischen Erfahrungen und deren kulturelle Bedeutungen. Sie erinnern mich jedoch ein wenig an die französische Nostalgie gegenüber der Belle Époque und ihren Edelbordellen. Einige dieser Häuser ähnelten prunkvollen Palästen, der Champagner floss und jedes Zimmer wurde wie ein Kunstwerk gestaltet. Was im öffentlichen Bewusstsein wohl weniger bekannt ist und was keine schönen Bilder hinterlassen hat, sind die miserablen Freudenhäuser, in denen die Frauen bis zu 80 Kunden pro Tag empfingen. Auch deswegen verspüre ich ein gewisses Unbehagen beim Lesen dieser Kolumnen, da sie für mich überhaupt keinen Beweis für Liberalität liefern, sondern eher versuchen, der Allianz von Kapitalismus, Erotik und Patriarchat Glamour zu verleihen. Und natürlich erfährt man nichts über die anderen, dunklen Seiten der Prostitution. Gleichzeitig kann ich Salomé Balthus, wenn sie erklärt, dass viele Frauen zu ihr kämen, da sie sich unter anderem ansonsten keine Wohnung innerhalb des S-Bahn-Rings leisten könnten, in der Tat schwer widersprechen.

 

Debatte über Straßenprostitution

 

Mitten in dieser für mich unauflösbaren Problematik wurde ich dann im September dieses Jahres gebeten, eine Debatte über Straßenprostitution am Institut Français zu moderieren. Eingeladen wurden dazu zwei junge Frauen mit ungarischen Wurzeln, Nina Yargekov, eine französische Schriftstellerin, sowie Noemi Katona, eine Soziologin und Anthropologin. Beide kamen durch Nebenjobs in Kontakt mit Straßenprostituierten. Das Gespräch fand am 4. Oktober statt und wir diskutierten die Frage, wie sich SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen am besten der Realität um Prostitution annähern können. Noemi Katona arbeitete im Jahr 2014 mehrere Monate für den „Frauentreff Olga“, einen Verein, der Prostituierten auf der Kurfürstenstraße hilft. Auf diese Weise lernte sie auch ungarische Prostituierte kennen und begann daraufhin, die Beziehungen dieser Frauen mit ihren Zuhältern zu untersuchen. Auf der anderen Seite des Rheins, in Paris und seinen Vororten, übersetzte Nina Yargekov für die französische Polizei Verhöre und abgehörte Telefonate von ungarischen Prostituierten. Von diesen erzählt sie unter anderem in ihrem letzten Roman Double nationalité.

 

Beschwerden

 

Wenige Tage vor dieser Debatte erfuhr ich, dass das Institut Français Beschwerden wegen dieser Veranstaltung bekam. Es hieß, dass dadurch dem Thema Glamour verliehen werde. Unter anderem meldete sich eine ehemalige französische Abgeordnete per E-Mail zu Wort und erklärte, dass sie das Ziel dieser Diskussion nicht begreifen würde. Sie empfahl uns, stattdessen den Geladenen die restriktive französische Gesetzgebung zu erläutern. Ich ahnte also, was auf mich zukommen würde, und unterstrich gleich zu Beginn der Veranstaltung, dass wir keine grundsätzliche Diskussion über Verbot oder Legalisierung wollten, sondern der Frage nachgehen wollten, wie man sich dem Thema Straßenprostitution anhand von Fiktion oder Wissenschaft annähern könne. Das Gespräch verlief zunächst ruhig, bis wir am Ende die Diskussion für das Publikum öffneten.

Daraufhin meldete sich eine echauffierte Französin und fragte vorwurfsvoll, weshalb das Institut Français als Vertreter Frankreichs und damit eines Landes, in dem Prostitution verboten sei, eine solche Diskussion veranstalte. Die Direktorin des Instituts, Dominique Treilhou, sah sich gezwungen, sich zu erklären, und wies darauf hin, dass diese Veranstaltung mit der Leitung in Paris abgestimmt und gewünscht sei. Ich erklärte, dass selbst wenn etwas verboten ist, sehr wohl eine Diskussion darüber geführt werden könne. Gleich im Anschluss ergriff ein, wie er sich selber nannte, „besorgter Bürger“ das Wort und kritisierte, dass im Laufe des Abends bloß von „Tanzen, Liebe und Lachen“ die Rede gewesen wäre, was den Anschein erwecken würde, dass wir die Straßenprostitution romantisiert hätten.

 

Banalisierung

 

Wir drei Frauen auf dem Podium schauten uns gegenseitig perplex an. Obwohl ich selbst dazu tendiere, Prostitution am liebsten abschaffen zu wollen, sah ich mich auf einmal mit dem Vorwurf der Banalisierung, sogar der Idealisierung konfrontiert. In keinem Moment hatten die Teilnehmerinnen der Gesprächsrunde versucht, das besagte Gewerbe zu verniedlichen. Im Gegenteil. Beide hatten mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen auf bestimmte konkrete Aspekte des Lebens von Prostituierten hingewiesen und damit indirekt diesen Frauen das Wort erteilt. Etwas, das in diesem ideologisch hochaufgeladenen Thema selten vorkommt. Nina Yargekov schilderte ganz konkret den Alltag der ungarischen Prostituierten, von dem sie durch die abgehörten Gespräche erfahren hatte. „Straßenprostituierte zu sein bedeutet zunächst einmal, frieren und nachts stundenlang stehen zu müssen“, erzählte sie gleich zu Beginn des Abends. Sie schilderte ebenfalls, wie diese Erfahrungen ihre frühere Vorstellung über Straßenprostitution demontierten. Denn sie beobachtete zugleich, dass Straßenprostituierte zu sein nicht automatisch bedeutet, auch ein Opfer sein zu müssen. Zumal sich viele dieser Frauen ebenfalls ungern so bezeichnen würden. Ganz im Gegenteil. Oft sind sie sogar stolz darauf, ihr eigenes Geld zu verdienen. Und von diesem Verdienst hängen manchmal ganze Familien in Ungarn ab. „Ich war überrascht, zu hören, wie oft sie lachen konnten“, so Yargekov weiter. Oder auch, dass sie manchmal mit Freiern Spaß hatten. 

 

Liebesbeziehungen

 

Die Prostituierten, die mit Noemi Katona gesprochen haben, sprechen sogar oft von Liebesbeziehungen, wenn sie das Verhältnis mit ihren Zuhältern beschreiben. Laut der Soziologin ist es ein klassisches Phänomen. Die Zuhälter sind meistens der einzige männliche Kontakt in der fremden Stadt. „Verführt oder geliebt“ heißt auch der Titel eines Kapitels, das sie zu diesem Thema für ein Sachbuch verfasst hat. „Wer bin ich, um über die Gefühle dieser Frauen zu urteilen und zu behaupten, es sei keine Liebe“, sagt Katona. Genau dieses Thema, die Gefühle einer Prostituierten zu ihrem Zuhälter, möchte die Schriftstellerin auch in ihrem nächsten Roman bearbeiten. Dafür lässt sie sich von der Gattung Liebesromane inspirieren, in der typisch patriarchale Liebesbeziehungen mit einem mächtigen Mann und einer schwachen Frau inszeniert werden. Denn ihrer Meinung nach findet man in diesem Verhältnis zwischen Prostituierter und Zuhälter ein Abbild, wenn auch in verschärfter Form, von der Beziehung zwischen Mann und Frau in der Gesellschaft. Es geht unter anderem um die typische weibliche Bereitschaft, alles für einen Mann zu tun.

 

Grenzen von Gut und Böse

 

Für die wütende Dame aus dem Publikum stellte dies jedoch kein würdiges Romanthema dar. Mit einem herablassenden Ton empfahl sie der Autorin, die Berichte von Traumatherapeuten bezüglich seelischer Folgen von Prostitution zu lesen. Aus ihrer Sicht können solche Frauen eben nur Opfer sein. In dieser hitzigen Stimmung hielt ich mich zurück zu sagen, dass die Ehe von so mancher Feministin auch als Prostitution betrachtet werden könnte. Die Grenzen von Gut und Böse lassen sich je nach Perspektive verschieben. Das zeigt auch eindrücklich ein Kapitel des Romans Double nationalité. Darin skizziert Nina Yargekov die Szene eines Verhörs mit einer ungarischen Zuhälterin. Immer wieder erklärt ihr der Polizist, dass ihre Tätigkeit illegal sei. Die Zuhälterin versteht nicht, was an ihrer Tätigkeit falsch sei, schließlich versucht sie zu überleben und anderen beim Überleben zu helfen. Die weiße, gut ausgebildete Frau, etwa die Dame aus dem Publik oder auch ich, die im Leben andere Alternativen zur Verfügung hatte, denkt meist nur abstrakt über diese inakzeptable Ausbeutung des weiblichen Körpers - ohne dabei das gesamtgesellschaftliche System in Frage zu stellen. Doch den Frauen auf der Straße ist damit nicht geholfen.

 

C.C